„Das ist doch alles alter Kaffee, was ich schreibe!“ Hast du dich selbst schon mal bei diesem Gedanken ertappt, als du an einem wissenschaftlichen Text gearbeitet hast?
Wissenschaftliche Texte bauen in der Regel auf vielen anderen Arbeiten und Werken auf – und oft fühlt sich Schreiben vor diesem Hintergrund nur wie ein Wiederkäuen von längst Bekanntem an, ohne dass du und deine eigene Fachposition hier wirklich zu Tage treten würden.
Heute wollen wir diesem weit verbreiteten Zweifel beim Schreiben einmal näher auf den Zahn fühlen. Woher kommt dieser Eindruck überhaupt – und was kann helfen, ihn beim Schreiben zu relativieren?
Wissen, das wir selbst haben, empfinden wir schnell als selbstverständlich und hinlänglich bekannt. Schreiben fühlt sich dann an wie die Nacherzählung einer Geschichte, die doch alle sicher schon hundertfach gehört haben. Langweilen wir mit unserem Text so nicht nur?
Erinnere dich dazu doch einmal zurück: wo standest du selbst noch vor einem Jahr in deinem Forschungsfeld? Oder vor fünf?
Wieviel wusstest du damals bereits über ein bestimmtes Thema? Welche Inhalte, die dir heute selbstverständlich bekannt sind, waren damals für dich noch neu und fremd?
Und was glaubst du: wieviele andere KollegInnen stehen heute gerade erst an diesem Punkt, an dem du damals warst?
Was ich damit sagen will: das Gefühl „Das, was ich hier schreibe, weiß doch sicher schon jeder!“ erwächst in der Regel erst aus deiner zunehmenden Professionalisierung heraus. (Lies diesen Satz gerne nochmal, der ist wichtig ;-))
DU bist mittlerweile in einen ExpertInnenstatus aufgestiegen, aus dem heraus du gewisse Informationen als banal und selbstverständlich empfindest.
Aber mit großer Wahrscheinlichkeit gibt es sehr viele Menschen da draußen, auf die das so nicht zutrifft. Die gerade erst beginnen, ein Thema für sich zu erschließen und zu verstehen – und sehr dankbar sind, wenn dein Text ihnen wichtige Sachverhalte und Zusammenhänge dazu näherbringt.
Nimm mit Stolz deine Expertise wahr – aber setze sie nicht als selbstverständlich voraus. Es gibt nichts, das jeder schon weiß!
In der deutschsprachigen Wissenschaftswelt ist es weiterhin eher unüblich, dass du als AutorIn dominant in deinem eigenen Text auftrittst – Stichwort „Ich-Tabu“.
Viele WissenschaftlerInnen fragen sich vor diesem Hintergrund, wo sie denn nun selbst mit ihrer einzigartigen Perspektive auf ein Fachthema in Erscheinung treten können. Wann geht es denn in deinem Text mal auch um DICH und deine Fachposition?
Tatsächlich ist es so: als ForscherIn fließt du mit deiner eigenen Sichtweise auf ein Thema von Anfang an in dein Projekt und damit letztlich auch die Ausgestaltung deines Textes ein – lange bevor du diese Sichtweise mit konkreten sprachlichen Mitteln im Text deutlich machst.
1. Die erste – und vielleicht gewichtigste – Stellschraube ist die Auswahl einer Fragestellung, die du mit deinem Text verfolgst. Sofern du hier alles richtig gemacht hast, hat sich mit genau dieser Frage schließlich noch nie zuvor jemand auseinandergesetzt, hat noch nie zuvor jemand genau hier systematisch in die Tiefe gegraben.
2. Nun kann man Fragen in der Wissenschaft ja durchaus auch mehrmals stellen – aber dabei in ihrer Beantwortung ganz unterschiedlich vorgehen. Eine weitere Stellschraube ist also die Wahl eines konkreten Untersuchungsgegenstandes und einer konkreten methodischen Umsetzung, mit denen du eine Antwort auf deine Fragestellung erarbeiten willst. Würde man die gleiche Frage 100 Menschen zur Bearbeitung vorlegen, würden hier über verschiedenste Wege Antworten erarbeitet werden. Welcher davon ist deiner?
3. Hast du dein Forschungsdesign – deinen originären Weg, zur Antwort auf eine eingangs gestellte Frage zu kommen – gefunden, geht es weiter in die Tiefe: Welche Erkenntnisse hast du denn aus deinen Untersuchungen, Analysen oder Interpretationen gezogen? Zu welchen Antworten bist du abschließend gelangt? Und welche Ansichten vertrittst du nun zu diesem Thema?
Du hast hier bereits drei wesentliche Stellschrauben kennengelernt, über die du als ForscherIn in deinen Forschungsprozess einfließt und ihn – bewusst oder unbewusst – von Anfang an gestaltest. Aber dieser Einfluss geht beim Niederschreiben deines Textes noch weiter.
1. Als AutorIn bestimmst du maßgeblich selbst, wie du deine LeserInnen von A bis Z durch deinen Erkenntnisgewinn leiten und sie von deinen Ansichten überzeugen willst. Welche übergreifenden inhaltlichen und argumentativen Linien verfolgst du mit deinem Text? Was willst du mit deinem Text ultimativ aussagen und vermitteln?
2. Wo legst du dafür inhaltliche Schwerpunkte? Wo ziehst du auf der anderen Seite Grenzen nach links und rechts und lässt bestimmte Themenaspekte weg? (Bedenke: diese Perspektiven auf ein Thema und seine Schwerpunkte könnten ganz unterschiedlich gelegt werden – und es könnte mehrere gleichermaßen gangbare Wege geben, um dein Thema aufzubereiten.)
3. Wie willst du zuletzt im geschriebenen Text diese Linie klar und überzeugend machen? Welche Quellen oder Beispiele ziehst du im Einzelfall zur Untermauerung deiner Aussagen heran? In welchen Fragen schließt du dich welchen Fachmeinungen oder Schulen an? Wen zitierst du wo – und welche Textpassagen zitierst du konkret?
Du siehst hier: es gab und gibt an verschiedensten Punkten in deinem Forschungs- und Schreibprozess Weggabelungen. Dass DU ganz bestimmte Wege so und nicht anders eingeschlagen hast, hat dein Projekt und deinen Text in Summe zu einem völlig einzigartigen Produkt gemacht.
Wenn du auf Seite 34 deines Textes also gewisse Fachliteratur zitierst, gibst du damit in keinster Weise „nur alten Kaffee“ wieder.
Das Heranziehen und Referieren von anderen AutorInnen und Werken ist die Spitze eines komplexen Eisbergs – die Spitze deiner einzigartigen ForscherInnenposition, die zuvor auf vielfältige Art und Weise geformt und ausgestaltet wurde. Niemand anderer hätte diesen Weg genau so zurückgelegt wie du. Niemand anderer hätte auf Seite 34 seines Textes genau diese Literatur mit genau dieser Intention zitiert.
Was dabei aber abschließend wichtig ist: damit dieser Prozess erfolgreich durchlaufen werden kann, muss vor allem deine Lektüre von Fachliteratur gut gesteuert werden – nämlich so, dass gelesene Werke dich schrittweise zur Entwicklung deiner eigenen Position hinführen, die du dann letztlich im Text vertreten und argumentieren wirst.
Wie das genau funktioniert, zeige ich dir im Workshop „Lesen ist nicht gleich Lesen! Drei essentielle Lesestrategien für deinen Forschungs- und Schreibprozess“ am 20. August von 16:00 – 18:00.
Im Workshop „Lesen ist nicht gleich Lesen!“ reflektieren wir erfolgreiche Zugänge zum Lesen im Forschungs- und Schreibprozess. Wir lernen Strategien kennen, um uns über das Lesen ein breites Forschungsfeld zu erschließen (ohne uns durch das Lesen immer weiter im Thema zu verlieren), unsere eigene Fachposition darin zu begründen und Gelesenes letztlich stimmig in den eigenen Text einzubinden. So setzen wir uns zu jedem Zeitpunkt bewusst und konstruktiv mit der Fachliteratur auseinander und stellen sicher, dass uns das Lesen schrittweise zum Kern unserer eigenen Argumentation führen wird.