Von der Langeweile zum Sinn - Die profanen Seiten der Wissenschaft verstehen und bewältigen

Mar 1 / Dr. Silke Ohlmeier & Dr. Nina Bürklin

Als der Soziologe Mariusz Finkielsztein seine Doktorarbeit zum Thema Academic Boredom begann, musste er viel Gelächter einstecken. Mit Langeweile wollte in der Wissenschaft niemand etwas zu tun haben. „Gibt es hier nicht, Forschung überflüssig“, lautete die gängige Kritik an Finkielszteins Forschungsvorhaben. Das ging so weit, dass eine seiner Interviewanfragen über den ganzen Institutsverteiler weitergeleitet wurde¬ – und zwar mit der Frage, wer sich hier einen so blöden Scherz erlaubt hätte. Finkielsztein ließ sich nicht entmutigen und konnte einige Jahre später belegen, dass sein Vorhaben definitiv kein Scherz war: In seiner Doktorarbeit zeigt er, dass es Langeweile in der Wissenschaft sehr wohl gibt – und dass es sich lohnt, das Phänomen genauer anzuschauen. Denn obwohl fast jede*r Langeweile kennt, wird sie von vielen Menschen falsch gedeutet.

Entgegen des verbreiteten Alltagsverständnisses ist Langeweile nicht unbedingt synonym mit dem Nichtstun. Der psychologische Langeweileforscher John D. Eastwood definiert Langeweile treffender als „the aversive experience of wanting, but being unable, to engage in satisfying activity“ . Langeweile ist keine direkte Folge einer bestimmten (nicht-)Tätigkeit. Sie entsteht nicht zwangsläufig, wenn wir zu wenig tun, sondern weil wir gerade nicht das für uns Richtige tun. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn Wissenschaftler*innen ein Seminar geben müssen, obwohl sie es selbst nicht interessiert oder wenn die Zitierweise für ein Journal aufwendig an die Formalien angepasst werden muss, obwohl die Einreichung vielleicht einen Tag später schon mit einem desk-reject enden wird. Und dann gibt es auch noch die Tage, an denen wir keine kognitiven Herausforderungen wollen und die stupidesten Quellenarbeiten plötzlich als angenehm empfunden werden.

Die Ursachen für Langeweile sind offensichtlich komplexer als gemeinhin angenommen. Langeweile ist vor allem eine Frage der Passung zwischen den Fähigkeiten bzw. Interessen einer Person und den Anforderungen der Situation. Das kann je nach Tagesform auch mal unterschiedlich sein. Ganz generell wird in der Langeweileforschung außerdem zwischen zwei Hauptursachen unterschieden:

1. Mangelnde Aufmerksamkeitsfähigkeit, z. B. bei:

Unterforderung
Überforderung
ADHS oder anderen Konzentrationsproblemen

2. Das Gefühl von Sinnlosigkeit, z. B. wenn ...

eine Tätigkeit oder Situation nicht mit Einstellungen und Werten im Einklang ist
uns etwas nicht interessiert
wir etwas unwichtig finden

Langeweile ist fast immer auf eine der beiden Ursachen zurückzuführen oder eine Mischung aus beiden.

Wenn Langeweile so differenziert verstanden wird, ist schnell klar: Langeweile gibt es überall – auch in der Wissenschaft. Beim genauen Hinsehen gibt es auch hier monotone, unterfordernde oder überfordernde Tätigkeiten. Das Ideal der neugierigen Wissenschaftler*innen, die sich immerzu leidenschaftlich und ausschließlich ihren Interessen widmen, ist häufig genau das: ein Ideal. Trotzdem denken viele Menschen beim Thema Langeweile ausschließlich an Fließbandarbeit oder die öffentliche Verwaltung. Dass das so nicht stimmt zeigt Finkielszteins Doktorarbeit. Er weist darauf hin, dass moderne Prozesse wie Säkularisierung, Bürokratisierung und Rationalisierung auch in der Wissenschaft ein Gefühl von Sinnlosigkeit und Langeweile hervorbringen können. Leider ist Langeweile hier häufig ein Tabu.

Das ist fatal, denn Langeweile ist nicht so trivial wie oft angenommen. Wissenschaftliche Studien zeigen deutlich, dass langanhaltende, starke Langeweile negative Auswirkungen auf das persönliche Wohlbefinden hat. Langeweile korreliert u.a. mit

negativen Gefühlen wie Angst, Einsamkeit und Aggressionen
einer geringen Lebenszufriedenheit
Suchtproblematiken wie Alkohol-, Drogen- oder Spielsucht

Um so wichtiger ist es, offen über Langeweile reden zu können und einen konstruktiven Umgang mit ihr zu finden.

Um mit den Folgen von Langeweile besser umgehen zu können, lohnt sich ein Blick auf die sinnzentrierte Psychotherapie nach Viktor Frankl, auch Logotherapie & Existenzanalyse genannt (übrigens nicht zu verwechseln mit „Logopädie“). Nach der Lehre des österreichischen Neurologen und Holocaust-Überlebenden bedeutet Sinn nichts Großes und Abstraktes, sondern ein ganz konkretes Sinnerleben im Alltag. Das Gefühl von Sinn kann dabei ganz unterschiedliche Quellen haben, z.B. wenn wir ein gutes Gespräch mit einer Kollegin führen, wenn wir in einem Projekt voll aufgehen oder wenn wir mit einer neuen Publikation einen weiteren Beitrag zur Wissenschaft (und zu unserer Karriere) geleistet haben.

Frankl definiert Werte als Möglichkeiten der Sinnverwirklichung. Das bedeutet zunächst nichts anderes, als dass Werte unsere Entscheidungen leiten und in der konkreten Umsetzung im Alltag für uns Sinn stiften. Es gibt drei Kategorien von Werten, von denen mal die einen und mal die anderen mehr im Vordergrund stehen: schöpferische Werte, Erlebniswerte und Einstellungswerte. So können wir über das konkrete Gestalten von etwas (schöpferische Werte) ebenso Sinn im Alltag entdecken wie über bedeutungsvolle Erlebnisse, bspw. das Hören unserer Lieblingsplaylist am Morgen oder das Eintauchen in die Natur in der Mittagspause. Was aber, wenn wir gerade in einer Krise stecken und Langeweile erleben – und alles sinnlos zu sein scheint?

Frankl, der selbst vier Konzentrationslager überlebte, proklamierte, dass wir Menschen auch und gerade im Leid Sinn erleben können. Vor allem in Krisen gehe es darum, die eigene Haltung zu verändern und die Dinge neu zu betrachten. Wenn uns, wie im Falle der Langeweile, weder schöpferische noch Erlebniswerte zur Verfügung stehen, kommt eine dritte Kategorie von Werten ins Spiel, die so genannten Einstellungswerte. In solchen Fällen, also immer dann, wenn wir die äußeren Umstände nicht ändern können, geht es darum, unsere innere Einstellung zu ändern. Unsere Aufgabe ist es, eine neue Einstellung zu den Dingen zu entwickeln. Es ist an uns, auch in den profanen Seiten etwas Sinnvolles zu entdecken. Das ist oft leichter gesagt als getan, aber immer möglich (ja, auch im Umgang mit scheinbar unsinnigen Zitierweisen für die nächste Publikation).

Drei einfache Schritte können helfen, mehr Klarheit, Selbstwirksamkeit und somit weniger Langeweile zu erleben.

1. Im ersten Schritt ist es hilfreich, sich Klarheit über all jene Situationen zu verschaffen, in denen man überhaupt Langeweile verspürt. So profan es auch klingen mag: alles aufzuschreiben, was gerade Langeweile erzeugt führt zu mehr Klarheit – egal, wie groß oder klein es erscheinen mag.

2. Als nächstes geht es darum, sich bewusst zu werden, auf welche dieser Situationen man einen Einfluss hat und auf welche nicht. Hier heißt es ehrlich sein. Wie steht es also mit der Vorbereitung für das ungeliebte Seminar, dessen Notwendigkeit noch nie jemand so recht verstanden hat? Und wie mit der Höhe des Gehalts, was durch den öffentlichen Dienst geregelt ist?

3. Der dritte Schritt teilt sich auf in die Konkretisierung der Aspekte, die man ändern kann und solche, die man nicht ändern kann. Für all die langweiligen Situationen, auf die man selbst einen Einfluss hat, heißt es nun, mindestens zwei konkrete Schritte aus der Langeweile heraus zu definieren. Das resultiert oft in einem Gefühl von Selbstwirksamkeit und bringt neue Energie. Für alle Aspekte, die man nicht ändern kann, heißt es, sich in Akzeptanz zu üben und vielleicht sogar den Blick darauf zu ändern. Wozu fordert einen diese Situation möglicherweise heraus? Was kann ich daraus lernen?

Jenseits von idealisierten Wissenschaftsvorstellungen ist Langeweile eine häufig übersehene Folge von rationalisierter, bürokratisierter, säkularisierter und kommerzialisierter akademischer Ar-beit. In einem 2-Stündigen Workshop wollen wir uns ausgiebig der profanen Seite der Wis-senschaft zuwenden, ihre gesellschaftlichen Wurzeln verstehen und ihr einen neuen Sinn abringen. Ziel des Workshops ist es, ein neues Bewusstsein für Langeweile zu finden, eigene Handlungsspielräume zu entdecken und einen werteorientierten Umgang zu entwickeln.

Von und mit Dr. Silke Ohlmeier und Dr. Nina Bürklin

LIVE-WORKSHOP AM 21. MÄRZ 2024 (10-12 UHR)

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